Kontextfaktoren bei Gemeindegründung

Die Dissertation von Dr. Simon Gisin ist erschienen:
Der Einfluss kontextueller Faktoren auf Gemeindegründungsarbeit.
Eine empirisch-theologische Studie.
Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 2024.
    

  
Es gibt zahlreiche Faktoren, die den „Erfolg“ von Gemeindegründungsprojekten beeinflussen, u. a. die Gemeindegründungspersonen mit ihren Kompetenzen und Begabungen, die Gemeindegründungsstrategie, der Kontext und über allem das nicht messbare Wirken Gottes. Simon Gisin hat sich vorgenommen, in seiner Dissertation den Kontextfaktor genauer unter die Lupe zu nehmen und zu prüfen, inwiefern kontextuelle Bedingungen ein Gemeindegründungsprojekt erschweren und begünstigen (siehe Einleitung Kap. 1 und Klärung der Forschungsfrage Kap. 2). Die Studie besticht insgesamt durch die Verbindung von präziser quantitativer und qualitativer empirischer Forschung mit theologischen Reflexionen.

In der bisherigen Literatur gibt es wohl Angaben zur Wirkung von Kontextfaktoren, diese sind jedoch selten empirisch gestützt, sondern stammen meist aus persönlicher Erfahrung, Beobachtung und Einschätzung der Autoren. Es überrascht daher auch nicht, dass teilweise gegenteilige Behauptungen aufgestellt wurden, so beispielsweise bei der These, ob eine schon vorhandene christliche Prägung sich positiv oder negativ auf Gemeindegründungsprojekte auswirke. Nichtsdestotrotz bilden die in der Literatur genannten Kontextfaktoren einen guten Ausgangspunkt für die Forschung. Gisin konnte Systematisierung aus der vorhandenen Literatur (Kap. 3) insgesamt 23 Hypothesen zum Lebensumfeld (z. B. Einkommen, Bevölkerungsentwicklung), zu Lebensphasen (z. B. Alter, Zivilstand) und zur Wahrnehmung des christlichen Glaubens (z. B. religiöse Entwicklung, christliche Prägung) ableiten.

In der Feldanalyse (Kap. 4) hat Gisin diese Hypothesen mittels einer quantitativen Vollerhebung aller Gemeindegründungsprojekte der deutschsprachigen Schweiz im Zeitraum von 1990 bis 2018 (insgesamt 117 Projekte) sowie qualitativen Experteninterviews geprüft. Bei zahlreichen Kontextfaktoren konnte entgegen manchen Aussagen in der Gemeindegründungsliteratur keine Wechselwirkungen mit der Entwicklung von Gemeindegründungsprojekten festgestellt werden (S. 264–265), beispielsweise bei der Ausländerquote, der Quote der Sozialhilfeempfänger, dem Einkommen, der Scheidungsrate, der konfessionellen Verteilung oder der Konfessionslosigkeit. Ein Einfluss zeigt sich jedoch beispielsweise bei den Faktoren der Arbeitslosigkeit und den Haushalten. Gemeindegründungsprojekte entwickelten sich rascher und erreichten mehr Personen in Gegenden mit höherer Arbeitslosigkeit und mit mehr Familien.

Die Beobachtungen aus den Fallstudien hat Gisin zum Anlass genommen, einige der brisanten theologischen Themen vertiefend zu diskutieren (Kap. 5), so den Zusammenhang zwischen Evangelisation und Gemeindegründung (Kap. 5.1), die Legitimität der Gemeindegründung (Kap. 5.2), die Berücksichtigung der Kontextfaktoren (Kap. 5.3) sowie die Entmythologisierung von Gemeindeaufbau-Mythen (Kap. 5.4). Innovativ ist der Ansatz, die Ekklesialität von Gemeindegründungsprojekten anhand der Grundvollzüge der Kirche (leiturgia, martyria, koinonia, diakonia) als „Gemeinde im Werden“ zu bestimmen (S. 294–299). Im Blick auf den Kontextfaktor der religiösen Prägung betont Gisin besonders die Berücksichtigung der bereits christlich geprägten Landschaft, so dass Gemeindegründungsprojekte sich nicht durch Abgrenzung von den bestehenden Ge­meinden und Kirchen auszeichnen, sondern sich als Ergänzung verstehen (S. 309–316). Hinsichtlich der Kontextfaktoren spricht sich Gisin begründet dagegen aus, den Ort der Gemeindegründung in Abhängigkeit von kontextuellen Erfolgschancen zu wählen (S. 348–352). Kontextanalysen haben jedoch ihren Nutzen sehr wohl darin, dass sie helfen, die Lebenswelt der Menschen besser zu verstehen und die Gemeindegründungsarbeit kontextuell sensibel zu gestalten (S. 348–352).

Gisins Studie ist in mehrfacher Hinsicht anregend: Sie ist ein gutes Beispiel, wie ertragreich es ist, wenn empirische und theologische Forschung miteinander verzahnt wird. Sie entlarvt manche unbegründeten Aussagen, weshalb ein bestimmtes Gebiet einen „harten Boden“ für Gemeindegründung darstelle. Sie verweist auf relevante und nicht relevante Kontextfaktoren (zumindest für den deutschschweizerischen Kontext). Und sie bietet nicht zuletzt hilfreiche Eckdaten einer Gemeindegründungstheologie.

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